Knowledge hub
Blogs
15. Sept. 2023

Das Agile Mindset: Agil sein

Mythos: Agil = Scrum! Agil = Overhead! Agil = Chaos! ... Realität: Agilität ist vielmehr ein Mindset. Dieser Artikel entlarvt den Mythos, indem wir Sie auf eine Reise durch das Mindset mitnehmen, das der Agilität zugrunde liegt. Agilität wird nicht als Methodik, sondern als tief verankerte Denkweise in Bezug auf (Selbst-) Führung definiert. Wir laden Sie ein, aus einer umfassenden Liste von Werten und Einstellungen zu verkosten, die das agile Mindset ausmachen und es von traditionellen Managementansätzen abgrenzen. Darüber hinaus betonen wir, wie eine agile Führungskraft als Facilitator und Servant Leader agiert. Wir kommen zu dem Schluss, dass Agilität konstruktive und effektive Werkzeuge liefert, um sich mit anderen zu organisieren, gemeinsame Ziele in einer sich wandelnden Welt zu verfolgen.

Agiles Mindset

Agilität, Scrum, Kanban & SAFe ... das sind nur einige der neuesten Schlagworte, die in den letzten Jahren durch alle Branchen gesickert zu sein scheinen. Während die einen diese Begriffe für einen kurzlebigen Modetrend halten, glauben andere, dass sie prägend für unsere zukünftige Arbeitsweise sein können. Was macht Agilität so besonders, dass es die Art und Weise, wie Menschen zusammenarbeiten, unabhängig von der Branche, prägen kann?

In einem früheren Blogartikel haben wir uns mit der Motivation hinter Agilität beschäftigt: Agilität ermöglicht es uns, den Fokus auf den (Kunden-)Wert („Customer Value“) zu wahren, während wir durch unsere VUCA-Welt navigieren. Tauchen wir nun tiefer in die Frage ein, was Agilität eigentlich ist.

Die Antwort ist simpel und braucht dennoch Zeit, um verinnerlicht zu werden: Agilität ist nicht nur eine Methode – es ist eine Denkweise („Mindset“) in Bezug auf Selbst- und Mitarbeiterführung.

Während eine Methodik eine Art und Weise ist, Dinge systematisch zu tun, ist unser Mindset eine Reihe von Annahmen, Überzeugungen und Einstellungen gegenüber uns selbst, anderen und der Welt. Unsere Denkweise selbst ist in unseren Werten verwurzelt. Mit anderen Worten: Was wir wertschätzen, prägt unsere Überzeugungen und unsere Weltanschauung.
– Unterscheidung zwischen Methodik, Denkweise und Werten

SAFe, das Scaled Agile Framework, kombiniert die Wertvorstellungen des Lean Manufacturing, die durch das House of Lean gut visualisiert werden, mit den Werten und Prinzipien des Agilen Manifests, und gelangt damit schließlich zum „Lean-Agile Mindset. Das daraus resultierende Mindset ist zwar ein nützlicher Leitfaden, aber eher eine Sammlung von Prinzipien als von Werten. Deshalb möchten wir an dieser Stelle einen Schritt zurücktreten und einen Blick auf die Kernwerte und -einstellungen eines Agile Mindsets werfen. Mit anderen Worten: Welche Werte und Einstellungen sind die Voraussetzung dafür, sich selbst, Arbeit und Menschen so zu managen, dass der Wert für alle Beteiligten optimiert wird ?

Im Folgenden finden Sie eine umfassende Liste von Werten und Einstellungen, die grundlegend für das agile Mindset sind (im Gegensatz zu den Werten des traditionellen Wasserfallmanagements)*:

  • Selbstorganisation und Partizipation (im Gegensatz zu Top-down-Management): Agil Denkende/ die agile Organisation akzeptieren und wertschätzt, dass jedes komplexe System (wie unser Gehirn oder soziale Systeme wie Organisationen) von Natur aus selbstorganisiert ist. Das bedeutet, dass jeder, der einen relevanten Beitrag leisten kann, willkommen ist diesen beizutragen (Partizipation). Außerdem entscheiden die Menschen, die die Arbeit leisten, wie sie diese verrichten.
  • Systemdenken (im Gegensatz zu der Wahrnehmung von Teilen des Systems als unabhängig voneinander): Agil Denkende erkennen an, dass alle Teile eines Systems auf nichtlineare („komplexe“) Weise miteinander verbunden sind. Daher ist die Anwendung einer ganzheitlichen/systemischen Sichtweise auf jede Situation/jedes System, mit der wir konfrontiert sind, von entscheidender Bedeutung für die Navigation unserer komplexen Welt. Das bedeutet zum Beispiel, dass die Optimierung einer Komponente des Systems nicht zwangsläufig zur Optimierung des gesamten Systems führt**.
  • Mut (im Gegensatz zum Verstecken hinter Managemententscheidungen, festen Projektplänen und der Vermeidung von Risiken): Agil Denkende/ die agile Organisation schätzen das Experimentieren, um sich ständig weiterzuentwickeln. Dies inkludiert Folgendes: Inkrementelles Planen & Entwickeln – Prüfen – Lernen – Anpassen („Inspect – Learn – Adapt“). Dazu gehört auch die offene Bereitschaft, Risiken einzugehen und Fehler zu machen. Kontinuierliches Lernen durch (Selbst-) Reflektion („Reflexion“) erfordert die Bereitschaft, verletzlich zu sein.
  • Respekt und Vertrauen (im Gegensatz zu Status-Respekt und Misstrauen gegenüber Mitarbeitenden): Agil Denkende/ die agile Organisation vertrauen darauf, dass Kollegen und Mitarbeitende in der Lage sind, ihre Arbeit in exzellenter Qualität verrichten können, wenn sie die richtige Unterstützung und Umgebung erhalten. Alle werden als gleichwertige Mitmenschen respektiert, ungeachtet jeglicher Unterschiede. Dabei wird Diversität – auch in Hinblick auf Wissen & Fähigkeiten – wertgeschätzt. Gewaltfreie Kommunikation und konstruktives Feedback sind für den gegenseitigen Respekt unerlässlich.
  • Offenheit & Transparenz (im Gegensatz zu Geheimhaltung und dem Vertuschen von Fehlern): Die agile Denkweise/ die agile Organisation legen Wert auf eine offene und transparente Kommunikation in Bezug auf die Arbeit, ihre Herausforderungen und Rückschläge – sowohl innerhalb der Organisation als auch gegenüber den Kunden/Stakeholdern. Nur auf dieser Basis können echte Erkenntnisse gewonnen und kontinuierliche Verbesserung erzielt werden.
  • Fokus (im Gegensatz zur Einhaltung eines festen Projektplans und unnötiger Meetings): Agil Denkende/ die agile Organisation konzentrieren sich vor allem auf die Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit sowie auf die Abstimmung („Alignment“) zwischen den einzelnen Mitarbeitenden und der Vision der Organisation. Zu jedem Zeitpunkt optimiert die agile Denkweise/Organisation den Einsatz von (Zeit-) Ressourcen im Hinblick darauf, ob sie den Kundenwert oder die Mitarbeiterzufriedenheit erhöht. Letzteres ist wichtig, denn zufriedene Mitarbeitende sind mit höherer Wahrscheinlichkeit gesünder und autonom motiviert, was wiederum ihre Loyalität gegenüber dem Unternehmen und seiner Vision erhöht.
  • Commitment und psychologische Eigenverantwortung (im Gegensatz zu festen Zuständigkeiten gemäß einer Stellenbeschreibung): Agile Denkende/ die agile Organisation legen Wert auf die Einhaltung der eingegangenen Verpflichtungen und eine klare Kommunikation, wenn die Erfüllung der Verpflichtung gefährdet ist. Dazu gehört ein ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein – man steht für seine Verpflichtungen ein. Autonom motivierte Mitarbeiter sind eher bereit, sich für die Ziele der Organisation zu engagieren und sich diese eigen zu machen.
  • Ambiguitätstoleranz (im Gegensatz zur Wahrnehmung der Welt in Entweder-Oder): Es gibt sicherlich unbestreitbare Tatsachen in der physischen und sozialen Welt. Agil Denkende/ die agile Organisation akzeptieren jedoch, dass unsere Wahrnehmung dieser Fakten und ihre Relevanz auf der Situation und dem zugrundeliegenden Kontext basieren.
  • Kontinuierliche Verbesserung – Growth Mindset (im Gegensatz zu Fixed Mindset): Agil Denkende/ die agile Organisation sind neugierig und offen, um kontinuierlich zu wachsen, zu lernen und sich persönlich und beruflich weiterzuentwickeln. Misserfolge werden nicht persönlich genommen oder abgelehnt, sondern als Chance zum Lernen verstanden. "Be better than yesterday" – unser Motto – bedeutet nicht: „Heute bist du nicht gut genug“, sondern: „Wir sind alle gemeinsam auf einem Weg der ständigen Weiterentwicklung.
  • Nachhaltigkeit (im Gegensatz zu Ausbeutung): Agil Denkende/ die agile Organisation übernehmen Verantwortung für ihr Handeln. Dies bedeutet, dass sie die Auswirkungen ihrer Produkte und Dienstleistungen auf ihre Kunden und die Umwelt verstehen und dass eine gesunde Organisationskultur und ein nachhaltiges Arbeitstempo im Einklang mit dem Wohlbefinden der Mitarbeiter unerlässlich sind. Eine agile Organisation wendet das Systemdenken auf die Nachhaltigkeit an („Kreislaufwirtschaft“) und optimiert unermüdlich ihre Auswirkungen.
  • Emotionale & soziale Intelligenz (im Gegensatz zu rein kognitiver Intelligenz): Soziale & emotionale Intelligenz sind von entscheidender Bedeutung, um die Komplexität menschlicher Interaktionen zu bewältigen. Sie befähigen uns, unsere eigenen Emotionen zu verstehen und mit ihnen konstruktiv umzugehen. Dies fördert unser Selbstbewusstsein und unsere Resilienz. Darüber hinaus ermöglichen diese Intelligenzen eine effektive Kommunikation, Empathie und Anpassungsfähigkeit in sozialen Kontexten. Dies führt zu gesünderen Beziehungen, verbesserter Konfliktlösung und der Fähigkeit, andere positiv zu beeinflussen. Letztlich steigert die Verbesserung dieser Fähigkeiten nicht nur das persönliche Wohlbefinden, sondern fördert auch eine harmonische und produktive Organisation/ Gesellschaft.

Diese Werte & Einstellungen sind die Essenz einer agilen Denkweise, die eine agile Kultur untermauert. Während die meisten Menschen zu denken scheinen, dass Agilität nur ein Oberbegriff für Rahmenwerke zur Wertschöpfung ist, die auf agilen Werten basieren, wie Scrum oder Kanban, verkörpert Agilität eigentlich dieses Mindset. Was es uns so schwer macht, den Unterschied zwischen agilem und traditionellem Management zu begreifen, ist die Tatsache, dass die agile Denkweise einen Paradigmenwechsel von der klassischen Logik des Top-down-Managements hin zu einer Logik erfordert, die Selbstorganisation und Vertrauen fördert. Mit anderen Worten: Bei Agilität geht es nicht nur darum, eine neue Methode einzuführen, sondern tatsächlich die zugrunde liegende Logik zu verändern. Diese Logik zu leben bedeutet, agil zu „sein“, und führt dazu, dass jeder Einzelne agil „handelt“, da jede Entscheidung, die wir treffen, auf unseren Werten (und kulturellen Normen) beruht.

Wenn Führungskräfte dies fördern (oder zumindest nicht behindern), entsteht eine agile Kultur, basierend auf der agilen Denkweise der Individuen. Es kann nicht genug betont werden, wie wichtig es ist, agil zu sein, aber es kann auch ein guter Anfang sein, agil zu handeln; Wie wir aus der Synergetik gelernt haben, können Makrophänomene (z.B. ein Team, das Scrum als Management-Framework verwendet) Mikrophänomene (z.B. unsere individuellen Denkweisen) beeinflussen und dadurch eine agile Kultur fördern. Die Nutzung einer agilen Methodik zur Förderung des agilen Mindsets bedeutet jedoch, dass wir uns ständig daran erinnern müssen, dass der Rahmen ein Mittel zum Zweck und nicht der Zweck selbst ist:

Ein agiles Rahmenwerk ist ein trojanisches Pferd, das darauf abzielt, das agile Mindset im Unternehmen einzuführen.

Auf der Grundlage eines Agilen Mindsets wurde 2001 das bereits erwähnte Agile Manifest entwickelt, das aus 12 Grundsätzen und 4 (so genannten) Werten besteht, auf die wir in künftigen Blogartikeln näher eingehen werden. Diese Prinzipien können als Handlungsaufforderungen in einem agilen Kontext interpretiert werden und die Werte beziehen sich auf einen Vergleich zwischen dem, worauf eine traditionelle und eine agile Organisation Wert legt. Ich persönlich finde es etwas verwirrend, dass die Entwickler des Agilen Manifests diese als Werte bezeichnet haben, denn Werte sind eigentlich etwas, das dem Mindset entspringt (siehe oben).

Quelle: Adaptiert - Matthew Hodgson, basierend auf Ahmd Sidky’s Agile Mindset.

Die agile Führungskraft: Facilitator & Servant Leader

Da Agilität die Selbstorganisation begrüßt, ist die agile Führungskraft weniger ein traditioneller Manager als vielmehr ein Facilitator und Coach. Eine echte agile Führungskraft lebt und führt mit gutem Beispiel voran und fördert agile Werte. Zu Befähigung („Facilitation“) gehört es, den Mitarbeitenden die richtigen Fragen zu stellen, nachdem was diese brauchen, um ihre Arbeit effektiv zu erledigen. Eine agile Führungspersönlichkeit ist eine dienende Führungspersönlichkeit („Servant Leader“), die Partizipation ermöglicht und ihren Mitarbeitenden vertraut, dass sie ihre Arbeit mit Fokus auf Kundenwert und guter Qualität erledigen. Die Servant Leaderin befähigt und leitet an, ermöglicht Synergien und unterstützt die Beseitigung von Hindernissen.

Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Wissensarbeiter („Knowledge Workers“) in der heutigen VUCA-Welt mit höherer Wahrscheinlichkeit effektiver einen Mehrwert für den Kunden schaffen können, wenn sie frei darin sind, ihre Arbeit selbst zu organisieren. Dies beinhaltet eine hierachie- und bürokratiefreie Kommunikation mit jenen Kolleg:Innen, zu welchen Abhängigkeiten in der Erfüllung der Aufgaben bestehen.

Agile Methoden wie Scrum sind keine Raketenwissenschaft, sondern simple Rahmenwerke, die auf eine Vielzahl von (Arbeits-)Kontexten anwendbar sind. Ihr Wesen liegt nicht so sehr in ihren Regeln, sondern eher in ihren grundlegenden Werten. Agilität ist ein Mindset, das ständig betont, den Schwerpunkt auf den Kundennutzen, die Motivation der Mitarbeitenden und das Alignment innerhalb der Organisationen zu legen. Es gibt viele Fallstudien, die belegen, dass agile Arbeitsweisen die Einnahmen des Unternehmens effektiv steigern. Obwohl die Wahrscheinlichkeit groß ist, dass Agilität Ergebnisse wie höhere Umsätze, Kunden- und Mitarbeiterzufriedenheit liefert, kann Agilität angesichts der Natur unserer VUCA-Welt jedoch keine festen Versprechungen machen und keine Universallösungen bieten. Das agile Mindset ist allerdings die konstruktivste und effektivste Art und Weise, wie wir uns zusammen mit anderen Menschen organisieren können, um gemeinsame Ziele zu verfolgen.

Dieser Blogartikel basiert auf einem Artikel, den ich für meinen persönlichen & wissenschaftlichen Blog geschrieben habe.

* Diese Liste ist umfassend, aber erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Sie basiert auf Literatur über Motivation, Selbstorganisation, Ambiguitätstoleranz und Laloux' „Reinventing Organizations“. Darüber hinaus überschneiden sich die meisten der agilen Kernwerte mit den 5 Scrum-Werten und den 4 SAFe-Werten, die beide auf den agilen Werten aufbauende Rahmenwerke sind.

** Ein gutes Beispiel für die Anwendung einer systemischen Sichtweise auf ein kontroverses Thema ist dieses wissenschaftlich fundierte Video zum Klimawandel.

Geschrieben von Julia Heuritsch, SAFe Practice Consultant & Agile Coach